Worte zum Tag

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15. Juli

Der Dorftrottel

Vor langer Zeit lebte in einem kleinen russischen Dorf ein Mann,
der als Kind manches etwas langsamer gelernt hatte als andere Kinder. Deshalb kam man im Dorf zu der Meinung, er sei etwas dumm
– und das sagte man ihm auch bei jeder passenden
und unpassenden Gelegenheit.

Der Mann bemühte sich sehr, alles genau so zu machen und zu sagen wie seine Mitdörfler – aber je mehr er sich bemühte, desto mehr nahmen die Mitdörfler sein Bemühen als Beweis, dass er etwas dumm, kurz ein Trottel, sie und lachten ihn aus und hänselten ihn.

Eines Tages kam ein Heiliger auf Wanderschaft in das Dorf.
Er unterhielt sich mit den Dorfbewohnern über Sorgen und Nöte,
Gott und die Welt. Die Dorfbewohner waren sich einig,
dass dies ein wirklich weiser Mann war.

Da fasste sich unser Dorftrottel ein Herz,
und er sprach den Fremden im Vertrauen an.
Er schilderte ihm sein Problem
und wie er von seinen Mitdörflern angesehen wird.
Der Heilige hörte sich die Geschichte an und sagte:
„Das ist leicht zu ändern. Du musst nur folgendes tun:
Jedes Mal, wenn ein Dorfbewohner etwas mit Dir spricht
und dabei eine Aussage macht oder eine Erfahrung berichtet,
dann musst Du antworten:
‚Das glaube ich nicht, beweise es mir!‘
oder ‚wie kannst du dessen so sicher sein‘?“

Und der Heilige fuhr nach kurzer Pause fort:
„Der Witz an der Sache ist: Diese Fragen sind nicht zu beantworten.
Es gibt nichts zu beweisen. Wenn jemand zu Dir sagt:
‚Heute ist aber ein schöner Frühlingsmorgen und Du sagst
‚Beweise mir, dass der Morgen schön ist!
Woher willst du wissen, dass das wahr ist?‘,
dann wird dieser Mensch verstummen und sich beschämt fühlen,
denn er kann es nicht beweisen.
Die Leute werden sich Dir automatisch unterlegen fühlen.“

Ein Jahr später war der Heilige wieder im Dorf.
Der ehemalige Dorftrottel war jetzt der Vorsitzende des Dorfrates
und wurde wegen seines großen Wissens und seiner Weisheit
von vielen Dorfbewohnern um Rat gefragt – kurz:
Er genoss ein großes Ansehen.

Zu dem Heiligen aber sprach er:
„Es ist komisch: Letztes Jahr war ich noch der Dorftrottel,
jetzt gelte ich als weise. Ich habe alles befolgt, was du mir geraten hast.
Und dabei bin ich doch noch derselbe Mensch.
Das alles nur, weil ich die Menschen immer wieder auffordere,
mir zu beweisen, dass die Dinge wirklich so sind, wie sie sie erleben.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist.“

Da sah ihn der Heilige lange an und sprach endlich:
„Was glaubst Du, wie ich ein Heiliger geworden bin?“

(Quelle unbekannt)